Das Bundesgericht hatte in 2 Fällen den urheberrechtlichen Charakter von Porträtfotografien zu beurteilen. Einmal ging es um ein, im landläufigen Sinn gesprochenen, Schnappschuss von Bob Marley mit wehenden Dreadlocks, aufgenommen von einem Schweizer Fotografen an einem open air-Konzert (BGE 130 III 168). Im anderen Fall ging es um eine Pressefotografie, auf welcher der Wachmann Christoph Meili abgebildet ist, wie er im Zusammenhang mit den sog. nachrichtenlosen Vermögen, gemäss Anweisungen der Fotografien zwei grosse Bücher als corpus delicti in die Kamera hält (BGE 130 III 714). Im Fall von Bob Marley kam das Bundesgericht zum Schluss, dass der Fotograf gerade keinen Schnappschuss gemacht hatte, sondern seinen gestalterischen Freiraum ausgenutzt hatte, im genau richtigen Augenblick auf den Auslöser gedrückt und einen speziellen Bildausschnitt gewählt hat und damit die Fotografie ausreichend Individualität aufweist.
Anders hat das Bundesgericht die Fotografie von Christoph Meili beurteilt. Obwohl die Fotografin in diesem Fall eindeutig keinen Schnappschuss gemacht hat, sondern das Bild regelrecht inszeniert hat, spricht das Bundesgericht der Fotografie die erforderliche Individualität und damit den urheberrechtlichen Schutz ab. Das Bundesgericht bestätigt mit folgenden Worten die Vorinstanz: “Der Bildausschnitt und der Bildwinkel ergäben ein frontales Portrait in einer Grösse, bei der das Gesicht von Meili und die beiden von ihm vorgezeigten Folianten den Mittelpunkt bildeten und die Titel der beiden Folianten in der Originalaufnahme problemlos lesbar seien. Diese Bildelemente würde jedermann so wählen, der zeigen wolle, dass Meili im Besitz der fraglichen Dokumente gewesen sei. Alle anderen fototechnischen Mittel seien banal und entsprächen dem, was eine einfache Kamera automatisch gewählt hätte. Auch die Art, wie Meili die beiden Folianten vorzeige, nämlich mit den Titelseiten frontal gegen die Kamera, sei naheliegend und entspreche dem, was jedermann anordnen würde. Schliesslich sei die Beleuchtung eine Blitzlichtbeleuchtung, wie sie bei jeder einfachen Kamera von einer eingebauten Leuchte geliefert werde. Einmalig sei die Aufnahme nur wegen ihres Objekts. Dieses dokumentiere einen höchst ungewöhnlichen Vorfall, der damals weltweit Aufsehen erregt habe.” (BGE 130 III 716).
Diese beiden Bundesgerichtsentscheide zeigen, wie schwer sich das höchste Gericht damit tut, sich festzulegen bei der Beurteilung des urheberrechtlichen Werkcharakters von Fotografien. Schlussendlich kommt man nicht herum, den Einzelfall genau zu prüfen. Möchte man ein Foto nutzen, sollte man im Zweifel eher von einem urheberrechtlichen Schutz ausgehen und sich dann vorsichtshalber lieber eine Einwilligung einholen, sei denn, das entsprechende Foto ist gemeinfrei. (für weitergehende Überlegungen vgl. Hug Gitti, Bob Marley vs Christoph Meili: ein Schnappschuss in sic! 2005 S. 57ff.)
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